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Vom Verschwinden der Mündigkeit und der Fachkräfte

Von der Mündigkeit I


In einem Fachlehrbuch für angehende Malerinnen und Maler aus den frühen 1960er Jahren wird folgende Aufgabe gestellt:


Mache eine reine Silikatfarbe (Mineralfarbe) an und streiche sie auf abgebundenen Kalkputz, auf Gipsputz, auf Zinkblech, auf Papiertapete und auf Ölfarbe. Beschreibe, was du beobachtest.


Aufgaben, die das Vorhandensein dieser einstmals gängigen Materialien in Lehrbetrieben voraussetzen, sind in heutigen Lehrmitteln kaum mehr anzutreffen. Noch seltener sind derartige Aufgaben, die an die eigenständige Empfindung und die Beobachtungsgabe der Lernenden appellieren und sie zu einer persönlichen Reflexion auffordern. Denn so aufgefordert, bauen Menschen Interesse und Fachwissen auf, entwickeln Fachkompetenz sowie die Mündigkeit zur eigenen Formulierung des Erlebten.


Copyright: Alle Farben des Lebens, Lisa Aisato

Von der Mündigkeit II

Im biblischen Schöpfungsbericht überträgt Gott dem Menschen die Aufgabe, den Pflanzen und Tieren, ja den Dingen der Schöpfung Namen zu geben. Die Namen sind von niemandem vorgegeben; sie werden durch den Menschen erschaffen und haben Gültigkeit. Er ist es, der sich von den Dingen ein Bild macht und daraus für alle, selbst Gott, einen Namen schafft. Er ist aufgefordert, seinen Mund aufzumachen, denn er ist mündig. 

Copyright: Thomas Klug, KEIMFARBEN AG


Eine Statistik

Quelle & Grafik, 17.10.2024, SRF-Artikel, Der Schweiz gehen die Handwerker aus.

 

Gestützt auf Erhebungen des Bundesamtes für Statistik veröffentlichte das Schweizer Fernsehen SRF im Herbst 2024 einen Beitrag mit dem Titel: Der Schweiz gehen die Handwerker aus, eine Grafik, die die Veränderung der Berufswelt seit 1970 thematisiert.


Aus dieser Darstellung lässt sich zahlenmässig der zunehmende Fachkräftemangel im Handwerk ablesen und man mag darüber ins Grübeln kommen. Mehr noch, wenn man nicht auf die Zahlen, sondern auf die Wörter, bzw. Berufsbezeichnungen schaut: Da gibt es die Gruppe der intellektuellen und wissenschaftlichen Berufe und jene des Handwerks mit verwandten Berufen.

Intellekt und Wissen versus Handwerk?   

Diese verbreitete Einteilung tritt nicht nur in der vorliegenden Statistik des Bundesamtes auf; sie ist tief in unserer Gesellschaft verwurzelt und findet ihren Anfang bereits in den ersten Klassen der Primarschule. Nicht selten vom Elternhaus unterstützt, zieht sie sich dann wie ein roter Faden durch das ganze Bildungssystem. Auch Berufsberatungen, ja sogar Handwerksverbände stützen bewusst oder unbewusst derartige Einteilungen, hinter denen im Grunde ein fragliches, vielleicht gar inhumanes Menschen- und Berufs-bild steht. Es lassen sich nicht nur Essen, alte Kleider oder Energie verschwenden, auch Humanressourcen werden so verschwendet. Dies gründet in institutionalisiert man-gelnder Wertschätzung ganzer Berufsgruppen aber auch dem individuellen Handwerker und der Handwerkerin gegenüber.

Intellektuell. Der Begriff, geht auf das lateinische intellegere zurück, welches sich mit wahrnehmen, merken, erkennen, empfinden, begreifen, verstehen übersetzen lässt. Mag sein, dass im heutigen Sprachgebrauch dieses Wort anders verwendet wird - auch spricht man lieber von irgendwelchen Intelligenzen als von Intellekt; aber dem Handwerk das Wahrnehmen, Merken, Erkennen, Empfinden, Begreifen, Verstehen strukturell ja in-stitutionell abzusprechen, ist ein andauernder, übler Missstand in unserer Gesellschaft. Dieser ist eine der Hauptursachen für den aktuellen Fachkräftemangel im Handwerk. Wer mag denn schon einen nicht-intellektuellen Beruf erlernen? Oder wer traut sich selbst eine Mündigkeit zu, wenn man der Wissenschaft doch nicht teilhaft ist?

Copyright: Thomas Klug, KEIMFARBEN AG

Von der Mündigkeit III

Eine Begebenheit, die sich kürzlich im Bekanntenkreis zugetragen hat:

Die kleine Rachel (Name geändert) kommt mit Rechenaufgaben von der Schule nach Hause. Die Mutter hilft ihr dabei, denn Rechnen ist nicht so Lisas Sache. Die Aufgabe lautet:


Fritz pflückt auf dem Heimweg 5 Äpfel und 3 Birnen. Wieviel Früchte bringt er nach Hause?


Nach einigem Überlegen fragt Lisa die Mutter: Wie sieht Fritz denn aus?


Sie gilt in der Schule als «zahlenschwach» ... Aber vielleicht möchte sich Lisa ja ein Bild machen, vielleicht möchte sie beobachten, wahrnehmen, merken, erkennen, empfinden, begreifen, verstehen - um den Dingen ihren Namen zu geben. Ich hoffe, Lisa wird ihren Weg gehen, ihren Beruf, ihre Berufung finden und ihren Mund aufmachen – es muss ja nicht im Bundesamt für Statistik sein.



KEIMFARBEN AG, Thomas Klug 25. Juni 2025
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